Vielleicht liegt die Antwort auf die vielen Fragen der 20- bis 35-Jährigen näher, als man meint: im Kehdinger Land, zwischen Cuxhaven und Stade.

Wenn man in Hamburger, Münchner oder Berliner Bars den Gesprächen zuhört, lernt man vor allem eines: dass die Dinge ziemlich kompliziert sind. Man sieht 20- bis 35-Jährige an ihrem Bier nippen und vom ewigen Sich-entscheiden-Müssen, von Antriebslosigkeit und den Schwierigkeiten reden, zwischen Praktikum und Auslandssemester, zwischen Kinderkriegen und Karrieremachen und zwischen den 124 Joghurtsorten, die es im Supermarkt gibt, wählen zu müssen.Man könnte jetzt weiterschreiben und die Stichworte „Facebook“, „Generation Y“ und „Selbstverwirklichung“ fallen lassen. Am Ende des Textes würden sich dann viele verstanden oder immerhin ein bisschen beruhigt fühlen, dass es den anderen offenbar auch so geht und man nicht allein ist.

Man kann es aber auch anders machen: Man kann sich in den Zug nach Hamburg setzen, von dort die Bahn zur Fähre nach Glücksstadt nehmen und da einem wortkargen Fährmann sagen, dass man „nach Wischhafen“ will. „Moin. Ja, alleine. Einfache Fahrt.“ Dann dauert es keine halbe Stunde mehr, um über die Elbe und in eine Welt zu kommen, in der Menschen leben, denen das Problem vom Überfluss der Möglichkeiten fremd ist, die die Frage „Was hättest du gerne anders in deinem Leben?“ nicht verstehen und die einem auf unanspruchsvoll-nüchterne Art beibringen können, zu leben.

Einer dieser Menschen ist Herbert. Herbert ist 80 Jahre alt und hat die frische Haut von einem, der viel draußen ist. Sein ganzes Leben hat er in Oederquart verbracht, einem Dorf der Gemeinde Nordkehdingen zwischen Cuxhaven und der 45.000-Einwohner-Stadt Stade. Es ist eine flache, windige Marschlandschaft. Die Dörfer hier sehen sehr aufgeräumt aus, und in den Sommermonaten staunt man als Fremder über den weiten Blick und den Himmel, der irgendwie höher scheint als anderswo.

Wenn man im Winter kommt, frisst sich eine feuchte Kälte unter die Haut. Kehdingen sei „ein gruseliges Land, in dem mit allem zu rechnen ist“, schrieb vor einigen Jahren mal ein „Zeit“-Journalist über die Gegend. Von dem Zeitungsartikel hat Herbert wahrscheinlich nichts mitbekommen. Fünf, sechs Mal in seinem Leben sind er und seine Frau Käthe in ihrem Renault nach Stade gefahren, aber sie wussten nicht, was sie dort sollten, und kehrten bald wieder um. „Muss nicht“, sagt Herbert. „Muss nicht“ ist in Norddeutschland ein stehender Begriff und beschreibt eine schicksalsergebene Gelassenheit zu den Dingen, die vielen Großstädtern fremd ist. „Muss nicht“ ist das Gegenteil von „muss ja“, auch genannt: „wat mutt, dat mutt“. Es ist eine schlichte Einteilung zwischen Pflichten, die getan werden müssen, und Dingen, die man sein lassen kann. Das meiste kann man eher sein lassen, finden die Kehdinger. Verwandt damit ist auch „is so“. Zwei Silben, die hier jede Diskussion zum Erliegen bringen. Wenn intellektuelle Berliner lange Argumente aufzählen, warum ihre Sicht der Dinge die richtige ist, warum sie recht haben und nicht der andere und dann in einen Exkurs über Subjektivität und Objektivität ausschweifen, sagen Kehdinger: „Is so.“ Es ist, wie es ist, und daran gibt es nichts zu ändern oder zu diskutieren.

Bei Herbert und seiner Frau Käthe war’s so: Ihr ganzes Leben hat das Ehepaar auf dem benachbarten Hof gearbeitet, er als Landarbeiter, Käthe als Haushaltshilfe. Käthe ist eine kleine Frau mit fröhlichen Augen, kurzen Haaren und krummen Fingern. Mit Mitte 20 haben sie geheiratet, mit Ende 20 ihr Klinkerhaus gebaut und dann eine Tochter bekommen. Sie war behindert und ist mit zwölf Jahren gestorben. Beide schweigen und man versteht, dass hier keine weiteren Fragen erlaubt sind. Es gibt nicht viele, die hier in dem flachen Landstrich zwischen Krummendeich, Wischhafen und Balje leben wollen, und es werden immer weniger.

Im Sommer wird die Grundschule im Ort geschlossen, es gibt nicht mehr genug Schüler. Jetzt überlegt man, das Gebäude in ein Altersheim umzufunktionieren. Jedes Jahr verliert die „Samtgemeinde Nordkehdingen“ um die 50 Einwohner. Die Alten sterben, die Jungen ziehen weg. Demografischer Wandel eben, is so. Trotzdem gibt es welche, die bleiben – und mit ihren sehr überschaubaren Möglichkeiten auf nüchterne Art glücklich scheinen. Wer zu Besuch kommt, wird auf der Straße mit „Tach“ gegrüßt und bekommt im Gasthof erzählt, eigentlich müsse man besser im Sommer kommen – da wird nämlich ein Labyrinth ins Maisfeld gemäht. „Man macht sich nicht so viele Gedanken“ Wie prägt das flache Land und dieses meistens leicht regnerische Wetter die Menschen hier? Herbert und Käthe wirken in sich selbst ruhend und auf eigenwillige Art lebensklug. Sie mögen Helene Fischer und Sonntags frühstücken in Drochtersen. Neulich hat da ein neues Café aufgemacht, aber das „muss nicht“. Manchmal schlafen dort morgens betrunkene Jugendliche mit dem Kopf auf den Tischen, Herbert macht sie nach. Sie machen lieber trockene Witze über Dinge, als sich über sie aufzuregen. Sowieso scheint man sich hier nur sehr ungerne aufzuregen.

„Man macht sich nicht so viele Gedanken.“ So beschreibt der Sänger Thees Uhlmann die norddeutsche Abgeklärtheit. Auch er stammt aus dieser Gegend und ist ein gutes Beispiel dafür, wie stark die Umgebung ihre Menschen prägt. Der Grund, aus dem er vor 20 Jahren hier wegzog, ist letztlich derselbe, aus dem er jetzt so oft an Wochenenden und in den Ferien zurückkommt: Damals war es der Mangel an Möglichkeiten, heute ist es die Faszination, nicht so viel um sich herum zu haben. Es ist nur eine Frage der Perspektive. Uhlmann – groß, blonde Haare, blaue Augen – sind seine norddeutschen Wurzeln auf den ersten Blick anzusehen, man hört sie in seinen unaufgeregten Witzen und erkennt sie, wenn er beschreibt, wie es ist, wenn Kehdinger sich richtig für eine Sache reinhängen wollen: „Lasst uns vielleicht versuchen, uns ein bisschen Mühe zu geben. Aber nicht unbedingt erwarten, dass das was bringt.“ So ist das in Kehdingen. Grundstück gekauft, zweites wurde dazu geschenkt. Thees Uhlmann ist weggezogen und Rockstar geworden, Herbert und Käthe sind geblieben. Man könnte sagen, dass ein Leben, wie ihres für junge Menschen heute nicht mehr möglich sei. Dass sie an der Zeit vorbeigelebt hätten und kein richtiges Beispiel für die suchende Generation der 20- bis 35-Jährigen seien. Stimmt nicht. Man muss sich nur aufs Fahrrad setzen und zwei Kilometer durchs Dorf fahren: vorbei am Oederquarter Gasthaus „Zur Post“, in dem Herbert und Käthe ihre goldene Hochzeit gefeiert haben, vorbei am Metzger, der samstags geschlossen hat. Und durchs „Bankenviertel“. So nennen spöttische Weggezogene den kleinen Platz, wo die Sparkasse und die Volksbank direkt nebeneinander ihre Filialen gebaut haben.

Dann kommt man zu einer Abbiegung, wo ein Schild das „Neubaugebiet im Wiesengrund“ bewirbt. Es stehen drei Häuser hier, vor vier Jahren wurde das letzte gebaut. Kai hat eines der Grundstücke gekauft, das zweite wurde ihm dazu geschenkt. Man glaubte nicht mehr, dass noch jemand kommen würde. Wenn man Kai und seine Frau Ina besucht, backt Ina Apfelkuchen und kocht Kaffee. Beide sind Anfang 30, beide kommen aus der Gegend, sie haben zwei Kinder, und keiner von ihnen zweifelt daran, dass es die richtige Entscheidung war, hier in Oederquart zu bleiben. Kai ist Ingenieur und arbeitet in einer kleinen Firma ein paar Hundert Meter von seinem Haus entfernt, Ina ist Bankkauffrau in Teilzeit bei der Stadtsparkasse Stade. Kai ist nett und kräftig, Ina hübsch und etwas schüchtern. Ihr Haus sieht aus wie ein Wohnbeispiel aus dem Ikea-Katalog. Einmal im Monat gehen sie zum Kegeln in den Gasthof „Zur Post“, manchmal fahren sie ins Kino nach Stade. Vermisst Kai zwischen Kegelklubtreffen, Kino, Kindern und Schafen vor der Haustür nicht irgendetwas? Die Frage findet er mühsam. „’Ne Videothek vielleicht“, sagt er, zweifelt und winkt ab. „Brauchen wir eigentlich auch nicht.“ Fragen sind nicht so sein Ding. Sie passen nicht ins Konzept von „muss ja“ und „is so“. Vielleicht ist die Antwort auf die Fragen sinnsuchender Großstädter ganz einfach: nicht so viele stellen. „Nützt ja nix“, sagen die Kehdinger dazu. Zufriedenheit ist nichts, worüber man reden müsse.

 

 

 

Im Kehdinger Land findet man Ruhe, Idylle, Zuriedenheit und Menschen, die einem auf unanspruchsvolle-nüchterne Art beibringen können, zu leben. Die Dörfer hier sehen aufgeräumt aus und in den Sommermonaten staunt man als Fremder über den weiten Blick und den Himmel, der irgendwie höher scheint als anderso.

Wie lebt man jenseits unbegrenzter Möglichkeiten und unzähliger Fragen? Man arbeitet, heiratet, baut ein Haus, gründet eine Familie. So war das, so ist das, so wird es hier sein. So in etwa lief es auch bei Herbert. Ist er zufrieden, wenn er zurückblickt? „Och.“ Nichts, worüber man reden müsse. Aber neulich, davon spricht er gerne und immer wieder, waren sie am Flughafen. Die Familie, für die er 60 Jahre lang gearbeitet hat, nahm Käthe und ihn mit nach Hamburg, als die Tochter zu einer Freundin nach Uruguay flog. Man bekommt Gänsehaut, wenn Herbert und Käthe von diesem Ausflug erzählen: „Das Größte, was wir überhaupt gesehen haben“, sagt Käthe. Herbert nickt. Sie standen auf der Besucherplattform und winkten den Flugzeugen – alle fünf Minuten sei eins gekommen, erzählt Käthe. „Riesengroße Maschinen. Und überall Menschen. Lauter Menschen.“ Auf der Rückfahrt redeten sie ununterbrochen: „Die Menschen“ – „Der Lärm“ – „Die Maschinen“. Ob sie auch gerne mal fliegen würden? „Neeee.“ Käthe winkt ab. Morgen kommt der „Musikantenstadl“ mit Andy Borg im Fernsehen. Das genügt. Und Herbert und Fliegen? „Kann man mal machen.“ Aber nu’ sei erst mal Rasenmähen dran. „Frühling und so. Muss ja.“

Pia Frey ist Co-Founder von OPINARY, einem Medien-Tech Startup, das es Usern ermöglicht, ihre Meinung in Online-Artikeln auszudrücken. Vorher arbeitete sie als Journalistin u.a. bei der „Welt“ und im Silicon Valley. In ihrem Podcast „OMR Media“ interviewt sie Gestalter der Medienwelt. Pia Frey gehört zu Forbes „30 unter 30“, war nominiert als „Journalistin des Jahres“ und gewann mit OPINARY den Grimme Online Award. Sie lebt in Berlin und New York.