Sich in die Natur begeben, sie reflektieren und darüber nachdenken, was diese Erfahrung mit einem macht. In der angloamerikanischen Literatur spricht man von „Nature Writing“ – bei uns im deutschsprachigen Raum finde ich keinen entsprechenden Begriff dazu. Klar ist: Die Natur steht im Mittelpunkt – und dazu braucht es vielleicht auch keine Übersetzung.

Für jede*n von uns hat die Natur eine andere Gewichtung und individuellen Stellenwert und das spiegelt sich dann auch in den Büchern zum „Nature Writing“ wider. In den großen Buchläden habe ich bisher vergeblich nach einer Abteilung „Nature Writing“ gesucht. Sich diesem Thema ein wenig mehr angenommen hat der Matthes & Seitz Verlag vor einigen Jahren. Mit dem einmal jährlich vergebenen Preis werden Autor*innen ausgezeichnet, die sich in ihrem literarischen Werk auf „Natur“ beziehen, d.h. mit der Wahrnehmung von Natur, mit dem praktischen Umgang mit dem Natürlichen, mit der Reflexion über das Verhältnis von Natur und Kultur und mit der Geschichte der menschlichen Naturaneignung. In der Pressemitteilung dazu heißt es weiter: „Nature Writing spricht nicht von ›der Natur als solcher‹, sondern von der durch Menschen wahrgenommenen, erlebten und erkundeten Natur.“

Daraus leite ich ab, dass man/frau fachmännische Abhandlungen eines Biologen und Försters aus diesem o.g. Themenbereich getrost ausklammern kann. Für mich geht es beim Nature Writing mehr um die Suche nach der Antwort, wie ein gutes Leben im Einklang mit der Natur gelingen kann.

Der Fixstern dieses Genres ist, natürlich, Henry David Thoreau (1817 – 1862) – der Ur-Typ des heutigen „Aussteigers“. Er gilt als Vordenker des Nature Writing. Er lebte zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage in einer Hütte irgendwo am Walden Pond, einem See in Massachusetts. Sein Ziel: Zu sich selbst und zurück zur Natur zu finden. Er schildert wie er sich mit Fischfang und Gemüseanbau selbst versorgt und gibt Ratschläge, wie man Bedürfnisse auf ein Minimum reduzieren kann. Er beschreibt wie es ihm mit der Zeit immer leichter fällt auf den gewohnten Luxus zu verzichten und sich bescheideneren Verhältnissen anzupassen.

„Walden oder Leben in den Wäldern“ heißt das Buch dazu, das ich allen empfehlen möchte, die gerne mal den gedanklichen Rückzug weg von Zwängen und Konventionen durchspielen mögen – mit dem Ziel, eine gewisse Ruhe und den Abstand zu finden, um wieder neu zu (über)denken. Thoreau macht das in einer sehr kurzweiligen Form, indem er Philosophisches und Praktisches in seine Schilderungen einfließen lässt.

„Walden oder Leben in den Wäldern“ v. Henry David Thoreau. Erschienen im Nikol Verlag. Übersetzt aus dem Englischen von Wilhelm Nobbe.

Ein weiteres Buch, das ich allen Interessierten gerne ans Herz legen möchte, ist „Das Haus am Rand der Welt“ von Henry Beston – einem weiteren führenden Vertreter des Nature Writing. Der Inhalt ist schnell erzählt: Für zwei Wochen wollte Beston in seinem Haus in der Nähe von Eastham auf der Halbinsel Cape Cod verbringen. Geblieben ist er ein Jahr, denn die Landschaft nahm ihn so sehr ein, dass er sich nicht von seinem kleinen Holzhaus am Meer trennen wollte. Das wirklich Besondere an der Erzählung ist, wie er die Natur um sich herum veranschaulicht und wenn jemand das kann, dann Beston. „…, dass der Farbton des Sandes an einem Junitag so warm und satt ist, wie man ihn sich nur vorstellen kann. Spät am Nachmittag legt sich ein zarter Hauch von Violett auf den Strand und das unmittelbar angrenzende Wasser.“ (Zitat)

Aufgrund seiner farbig- detaillierten Beschreibungen setzt er Landschaften und Beobachtungen um sich herum textlich so treffend in Szene, dass die eigene Vorstellungskraft keine großen Hürden nehmen muss, um den „Duft … aus fransigen Zotteln, Büscheln und verfilzten Girlanden von Meerespflanzen“ zu riechen oder „die tropisch-feuchte Luft, angefüllt mit heißem und feuchtem Sand“ einzuatmen. Sehr empfehlenswert.

„Das Haus am Rand der Welt“ v. Henry Beston. Gestaltung Buchcover: Katja Holst. Erschienen in der Büchergilde Gutenberg Verlagsgesellschaft. Übersetzt aus dem Amerikanischen v.Rudolf Mast mit einem Nachwort von Cord Riechelmann.

Als Drittes möchte ich euch an ganz außergewöhnliches Buch vorstellen: „An das Wilde glauben“ von Nastassja Martin. Auf einer Forschungsreise wird die Französin Nastassja von einem Bären gebissen und schwer verletzt. In aufwühlenden Worten schildert sie, wie es zu diesem Kampf mit dem Bären gekommen ist und erzählt die Geschichte ihrer Genesung.

Nastassja ist Anthropologin und sie liebt das einsame, ursprüngliche Leben. In jungen Jahren zieht es sie nach Kamtschatka, um dort für einige Jahre bei und mit den Ewenen, einem zurückgezogenen indigenen Volk am äußersten Ende Russlands, zu leben und ihre Bräuche zu studieren. Die Ewenen sind Animisten. Sie glauben, dass unbelebte Dinge lebendig und von Geistern beeinflusst sind, und dass die Geisterwelt im Leben der Menschen aktiv ist.

Auf einer Bergtour wird Nastassja Martin von einem Bären angegriffen. Er zerreißt ihr das Gesicht, Kiefer, Schädel. Sie kämpft, schlägt wild mit ihrem Eispickel um sich und das Unglaubliche passiert: Der Bär gibt auf und verschwindet. Nastassja wird von den Ewenen und russischen Chirurgen gerettet, aber der Weg bis zur Genesung ist weit und sie beginnt über das nachzudenken worüber sie bisher theoretisch geforscht hat: Über eine feste Verbindung des menschlichen Lebens mit dem kreatürlichen – also genau das, woran die Ewenen glauben. „Ich sage mir, dass ich auf der Hochebene wohl uneingestanden auf der Suche war nach demjenigen, der endlich die Kriegerin in mir offenbaren würde.“ (Zitat)

„An das Wilde glauben“ ist ein unglaubliches Buch. Trotz der Dramatik schafft es Martin ganz undramatisch, fast sachlich ihr Erlebnis mit dem Bären wiederzugeben. Statt von einem Angriff spricht sie von einem Zusammenstoß. Dennoch sollten sensible Leser*innen auf die Wucht (Trigger!) ihrer beschreibenden Worte, während sie nach dem Kampf auf Hilfe wartet, vorbereitet sein. Ganz uneitel schildert sie weiterhin wie zunächst russische und dann französische Ärzte sie behandeln während sie darin eher ein politisch-medizinisches Kräftemessen sieht. Den Eindruck kann man ihr nicht verwehren, denn nachdem sie in ein französisches Krankenhaus eingeliefert wird, werden dort die von russischen Ärzten vorgenommenen Operationen nochmals in anderer Form vorgenommen.

Doch trotz allem, sobald die körperlichen Wunden geheilt sind, kehrt Nastassja Martin zunächst zurück an den Ort des Geschehens, zu ihrer ewenischen Familie.

Copyright: Philippe Bretelle et Gallimard

 

„An das Wilde glauben“ v. Nastassja Martin. Erschienen im Matthes & Seitz Verlag. Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer.