So oft wurde „Alte Sorten“ von Ewald Arenz auf Instagram schon besprochen. So viel wurde bereits dazu geschrieben, so unterschiedliche Meinungen habe ich dazu gelesen. Ich kannte den Autor vorher nicht, bin erst aufmerksam geworden durch „Der große Sommer“ – auch ein Buch, das die Gemüter teilt. Und dann habe ich „Alte Sorten“ selbst gelesen …

Es geht um Sally und es geht um Liss. Sally ist zornig … auf sich, auf ihr Zuhause, auf die ganze Welt. Sie ist auf der Flucht … vor sich, vor ihrem Zuhause, vor der ganzen Welt. Sally ist aus einer Klinik für Essgestörte getürmt und kann sich fast alles vorstellen, nur nicht zurück zu den Eltern zu gehen.

„Sie kannte keinen Ort, der nicht irgendwie versucht hatte, sie zu fesseln. Ihr Zuhause. Die Schule. Die Kliniken. Man ging hinein, und dann wuchsen aus den Wänden und aus dem Boden und von der Decke herab die Leinen und Ketten und Schnüre und Netze …“

Liss, die Bäuerin, lebt zurückgezogen auf ihrem Hof, den sie allein bewirtschaftet. Sie ist wortkarg und einzelgängerisch. Liss lebt außerhalb des Dorfes und außerhalb der Dorfgemeinschaft. Da ist irgendwann irgendwas vorgefallen.

„Liss hatte manchmal Angst, nicht funktionieren zu können. Arbeit war alles. Es war gut zu arbeiten, weil der tägliche Ablauf der Dinge so war wie ein markierter Weg in den Bergen. Man wusste, wohin man zu gehen hatte. Alles andere war gefährlich, wenn man nicht abstürzen wollte.“

Eines Tages, als der Traktor von Liss beim Wenden stecken bleibt, zwischen Feldern und Weinbergen, begegnen sich diese beiden Außenseiterinnen. Schon beim ersten Wortwechsel bemerkt Sally verblüfft, dass Liss anders ist als andere Erwachsene, weil sie „echte Fragen“ stellt und sie „benutzt nicht eines der Wörter, die die anderen benutzten, um nicht zu sagen, was sie wollten“.

Liss wiederum nimmt Sally so wie sie ist. Sie erkennt deren Zerrissenheit und bietet ihr an auf dem Hof zu bleiben, um ihr bei der täglichen Arbeit zu helfen. Während sie also gemeinsam Bäume auszeichnen, Kartoffeln ernten und Bienen zuckern entwickelt sich nach und nach eine leise, zurückhaltende Freundschaft. Dabei entdecken beide jeweils bei der anderen, dass es Enttäuschungen und Verletzungen waren, die aus ihnen diese gepanzerten Seelen gemacht haben. Und so finden sie einen Weg zueinander.

Dieses Buch hat mein Herz berührt. Unglaublich mit wieviel Sensibilität und Feingefühl Arenz das komplizierte Geflecht der beiden unterschiedlichen Charaktere schildert. Dabei geht er textlich wie auch inhaltlich ganz behutsam vor. Er nimmt den Leser mit in die komplizierte Gefühlswelt von Sally und in die Zurückgezogenheit von Liss und verleiht den beiden Protagonistinnen eine beinahe greifbare Authentizität. Dieses Buch ist wie der verwilderte Obstgarten mit seinen besonderen Birnensorten, „voller süßer Gerüche“, mal honigsüß, mal etwas herb. „Ein Garten voller Bienen-Gesumme und Septemberlicht“.

„Alte Sorten“ ist voller Lebensweisheit und Gefühl. Es ist bezaubernd, überwältigend. Es hat mich wie eine große warme Meereswelle hin und her gespült. Ich habe gelacht, ich habe geweint. Dieses Buch ist einfach nur schön.

Lieblingszitat: … vielleicht würde Sonnenlicht so schmecken, wenn es einem nach einem langen Sommer durch das weite Blau des Himmels und dann durch das alte Grüne hoher Bäume direkt auf die Zunge fiele.“

Der Autor: Ewald Arenz, 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Der Autor lebt mit seiner Familien in der Nähe von Fürth. 

„Alte Sorten“ von Ewald Arenz. Erschienen im Frühjahr 2019 im Dumont Buchverlag, 255 Seiten.

 

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